In einem kürzlich in der Fachzeitschrift Ecology Letters veröffentlichtem Artikel weisen Forschende nach, dass die Sexualität der Blüten von Pflanzenfressern wie blatt-, stängel- und wurzelfressenden Heuschrecken, Käfern und Raupen gesteuert wird. Das Forschungsteam fand heraus, dass Pflanzenarten, die von mehr Insektenfressern angegriffen werden, männlichere Blüten haben, ein Indikator für ihre größere Investition in genetisch vielfältige Nachkommen. Dieses Ergebnis sagt die so genannte Red-Queen-Hypothese vorher.
Die Hypothese aus dem Wunderland
Die Rote Königin aus Lewis Carrolls berühmter Erzählung „Alice hinter den Spiegeln“ gab der Hypothese ihren Namen. In dieser Geschichte sagte die Rote Königin zu Alice: „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.“ Die Hypothese beschreibt, dass Organismen einem stetigen evolutionären Druck ausgesetzt sind. Deshalb müssen sie sich kontinuierlich weiterentwickeln, um nicht als benachteiligte Lebensformen ausselektiert zu werden.
Die Red-Queen-Hypothese soll den Vorteil der aus evolutionsbiologischer Sicht wenig effektiven sexuellen Fortpflanzung und das ständige „Wettrüsten“ konkurrierender Organismen (Parasit-Wirt, Beute-Jäger) erklären. Wenn sich geschlechtliche Organismen fortpflanzen, bringen sie Nachkommen hervor, die einzigartige Kombinationen von Abwehrstoffen gegen Parasiten enthalten, wodurch die Angriffswaffen der Parasiten weniger wirksam sind. Im Gegensatz dazu wird das Verteidigungsarsenal ungeschlechtlicher Organismen praktisch unverändert von den Eltern an die Nachkommen weitergegeben. So können Parasiten nach einigen Generationen lernen, wie sie ihr Abwehrarsenal entschärfen können. Nach der Red-Queen-Hypothese sind die Nachkommen von Individuen, die sich sexuell fortpflanzen, daher wesentlich besser geschützt als die von asexuellen Individuen.
Pflanzenfresser beeinflussen Blüten
Um die Theorie zu überprüfen, sammelten die Wissenschaftler Blüten von 141 deutschen Pflanzenarten aus verschiedenen Umgebungen, darunter Grasland, gemäßigte Wälder und alpine Vegetation. Im Labor wogen die Forscher das männliche und das weibliche Organ der Blüten, die für die Produktion von Pollen beziehungsweise der Eizellen zuständig sind. Anschließend berechneten sie die Männlichkeit der Blüte, ein Verhältnis aus dem Gewicht des männlichen Organs geteilt durch das Gewicht beider Geschlechtsorgane. Im Allgemeinen neigen Pflanzenarten, die mehr in das weibliche als in das männliche Organ investieren, zur Selbstbefruchtung und produzieren Samen mit geringerer genetischer Vielfalt. Im Gegensatz dazu neigen Arten, die mehr in das männliche als in das weibliche Organ investieren, zur Auskreuzung, wodurch Samen mit höherer genetischer Vielfalt entstehen.
Ein anderer Teil des Forschungsteams ging in die Bibliothek und ins Internet, um in einer umfangreichen Untersuchung abzuschätzen, wie viele Insektenarten jede einzelne Pflanzenart fressen. Angeleitet wurde dies von Martin Gossner, Gruppenleiter bei der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL und außerordentlicher Professor der ETH Zürich. Diese Untersuchung war nur dank des Wissens möglich, das sich in mehreren Jahrhunderten naturkundlicher Forschung in Deutschland angesammelt hatte. "Durch die Kombination der beiden unabhängigen Datensätze konnten wir nachweisen, dass die Männlichkeit der Blüten positiv mit der Anzahl der Insekten-Herbivoren und der Vielfalt ihrer Ernährungsweisen verbunden ist. Diese eindeutigen und robusten Zusammenhänge haben uns verblüfft", sagt Martin Gossner.
"Das Forschungsteam fand heraus, dass Pflanzenarten, die von mehr Insekten angegriffen werden, die Sexualität der Blüten beeinflussen. Dies ist ein außergewöhnlicher Befund, der die Red-Queen-Hypothese stark unterstützt. Dies unterstreicht die Bedeutung des Erhalts der genetischen Vielfalt für unsere Nahrungspflanzen und die Gefahr der Verringerung der Populationen der Wildtiere. Ohne genetische Vielfalt sind alle Arten durch ihre Parasiten bedroht", sagt Carlos Roberto Fonseca von der brasilianischen Universität Rio Grande do Norte. "In einer Zeit, in der die Menschheit von vielen Viren und Bakterien bedroht ist, erinnert uns die Rote Königin daran, dass wir dankbar sein sollten für unser multiethnisches Erbe, das uns eine natürliche Resistenz gegen unsere Parasiten verleiht und für unser langfristiges Überleben von entscheidender Bedeutung ist", so der Forscher abschließend.
Publikation:
Fonseca, C. R., Gossner, M. M., Kollmann, J., Brändle, M., Paterno, G. B. (2022), Insect herbivores drive sex allocation in angiosperm flowers. Ecology letters. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/ele.14092
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